Das Wohlergehen von landwirtschaftlichen Nutztieren ist ein zunehmendes europäisches Anliegen. Das Wohlergehen eines Tieres gilt als gut, wenn es frei von Hunger, Unterernährung und Durst, frei von Angst und Bedrängnis, frei von Hitzestress oder körperlichem Unbehagen, frei von Schmerzen, Verletzungen und Krankheiten ist und normale Verhaltensweisen zeigen kann. In Europa stützt sich ein breites Spektrum von Tierschutzgesetzen auf wissenschaftliche Daten, die von Institutionen wie der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) bereitgestellt werden. Auch die Europäische Kommission verfolgt eine spezielle Tierschutzstrategie, zu der Initiativen wie die Tierschutzplattform gehören.
Das Wohlergehen wird gemeinhin als dreiteiliges Modell beschrieben, das die biologische Funktion, den mentalen (affektiven) Zustand und das natürliche Verhalten (ausreichende Liegezeit, soziale Interaktion) umfasst.1
Die wichtigsten Aspekte des Wohlergehens von Milchkühen in diesen Bereichen sind:2

  • Im Zusammenhang mit biologischen Funktionen: Unterernährung (oder negative Energiebilanz), Dehydrierung, Hitzestress, Verletzungen, Lahmheit, Infektionskrankheiten (einschließlich Mastitis, Metritis und Atemwegserkrankungen), Stoffwechselstörungen (einschließlich Ketose und Milchfieber), Fortpflanzungsstörungen (einschließlich Dystokie).
  • Bezogen auf den affektiven Zustand: Schmerz, Stress, Hunger, Durst usw.
  • Im Zusammenhang mit der Sorge um ein natürliches Leben: Störung des natürlichen Verhaltens (z. B. Liegen, Bewegung, Fressen), Störung des sozialen Umfelds (z. B. Umgruppierung, große Herdengröße, Trennung von Kuh und Kalb und Isolation) und Aggression.

Die Bewertung des Wohlbefindens von Milchkühen ist für die Erzielung einer optimalen Herdenleistung unerlässlich. Dieser Prozess erfordert erhebliche Anstrengungen, um wissenschaftlich fundierte Indikatoren für das Wohlergehen von Kühen zu entwickeln, die als objektive, tierzentrierte Bewertungsinstrumente dienen. Diese Indikatoren müssen sowohl zuverlässig als auch praktisch in der täglichen Anwendung sein.

Europäisches Welfare Quality®-Bewertungsprotokoll3
Derzeit gibt es verschiedene Systeme und Messprotokolle für die Bewertung des Wohlbefindens von Milchkühen. Eines der am weitesten verbreiteten ist das European Welfare Quality Protocol®, das ein detailliertes Verfahren zur Bewertung des Wohlergehens von Rindern beschreibt. Das Protokoll enthält zahlreiche Indikatoren, von denen viele allerdings schwer zu messen sind. Diese Indikatoren sind in 12 Tierschutzkriterien gegliedert, die auf vier Grundprinzipien beruhen: gute Fütterung, gute Unterbringung, gute Gesundheit und angemessenes Verhalten. Jeder Grundsatz umfasst zwei bis vier Kriterien. Die Kriterien sind unabhängig voneinander und bilden einen umfassenden und dennoch übersichtlichen Rahmen. Eine Zusammenfassung der Grundsätze, Kriterien und Indikatoren für das Wohlergehen von Tieren ist in der nachstehenden Tabelle aufgeführt.4

Grundsätze des Wohlergehens

Kriterien für das Wohlergehen

Indikatoren

Gute Fütterung 1 Abwesenheit von anhaltendem Hunger  

Sehr magere Kühe (%)1

2 Fehlen von anhaltendem Durst Anzahl der Tiere pro Tränke und/oder Zentimeter der Tränke, Funktion, Wasserdurchfluss und Sauberkeit der Tränken
Gutes Gehäuse 3 Komfort beim Ausruhen:

  • Komfortverhalten
  • Sauberkeit
Durchschnittlich benötigte Zeit zum Hinlegen
Kühe, die teilweise oder ganz außerhalb des Liegebereichs liegen (%)
Kühe mit verschmutzten unteren Hinterbeinen, Hintervierteln und Eutern (%)
4 Thermischer Komfort

Bislang wurde noch kein Indikator entwickelt.

5 Leichtigkeit der Bewegung Vorhandensein von Anbindehaltung, Anzahl der Tage pro Jahr und Stunden pro Tag mit Zugang zu Weide und Auslauf im Freien
Gute Gesundheit 6 Abwesenheit von Verletzungen:

  • Lahmheit
  • Integument-Veränderungen
Mäßig und schwer lahmende Kühe (%)
Kühe mit haarlosen Stellen (%) Kühe mit Läsionen und Schwellungen (%)
7 Abwesenheit von Krankheit Mittlere Anzahl von Husten pro Kuh und Stunde
Sterblichkeit im Betrieb (%)
Kühe mit Nasenausfluss, Augenausfluss, behinderter Atmung, Durchfall, Vulvaausfluss, Dystokie (%) SCC >400.000 Zellen/ml
8 Abwesenheit von Schmerzen, die durch Managementverfahren verursacht werden Enthornen und Kupieren von Schwänzen sowie Methoden und Einsatz von Betäubungsmitteln und Schmerzmitteln während des Verfahrens
Angemessenes Verhalten 9 Ausdruck sozialer Verhaltensweisen Mittlere Anzahl von Kopfstößen und Verlagerungen pro Kuh und Stunde
10 Äußerung von anderen Verhaltensweisen Anzahl der Tage/Jahr und Stunden/Tag mit Zugang zu Weideland
11 Gute Mensch-Tier-Beziehung Kühe, die auf 0 bis 10 cm, >10 bis 50 cm, >50 bis 100 cm und >100 cm herangeführt werden können (%)3
12 Positiver emotionaler Zustand Ergebnisse von 20 Begriffen des Qualitativen Verhaltensassessments4

1 Die Kategorie “sehr mager” entspricht einem BCS <2 bei typischen Milchviehrassen und einem BCS <2,5 bei typischen Fleisch- oder Zweinutzungsrassen auf einer BCS-Skala von 1 (sehr mager) bis 5 (sehr fett).
2 Die Kategorien “mäßig lahm” und “stark lahm” entsprechen der Punktzahl 3 bzw. 4 und 5 auf der Punkteskala von 1 (“normaler Gang”) bis 5 (“stützt sich nicht auf eine Gliedmaße oder hat starke Abneigung, eine Gliedmaße in zwei oder mehr Gliedmaßen zu belasten”) des in Winckler und Willen (2001) beschriebenen Lahmheitsbewertungssystems.
3 Die Vermeidungsdistanz wird gemessen, indem man sich den Milchkühen aus einer Entfernung von 2,5 m am Futtertisch nähert und den Abstand zwischen Hand und Schnauze in dem Moment misst, in dem sich das Tier zurückzieht (Welfare Quality, 2009).
4 Der positive emotionale Zustand wird anhand der quantitativen Bewertung von 20 Begriffen des Qualitativen Verhaltensassessments gemessen: aktiv, entspannt, ängstlich, aufgeregt, ruhig, zufrieden, gleichgültig, frustriert, freundlich, gelangweilt, spielerisch, positiv besetzt, lebhaft, neugierig, gereizt, unruhig, gesellig, apathisch, glücklich und verzweifelt.

Künftige Herausforderungen
Die Beurteilung des Wohlbefindens von Kühen anhand tierbezogener Indikatoren beruht auf visuellen Bewertungen, die zeit- und kostenaufwändig sein können. Dieser Prozess erfordert oft längere Datenerhebungszeiträume, mehrere Betriebsbesuche und wiederholte Kontrollen durch die Prüfer, um die Einheitlichkeit im Laufe der Zeit zu gewährleisten, was alles zu den Kosten beiträgt. Der Einsatz technologischer Hilfsmittel für genaue Tierschutzbeurteilungen in Echtzeit wird jedoch in kommerziellen Betrieben immer häufiger.5
Lösungen für die Präzisionsviehhaltung (Precision Livestock Farming, PLF) sind in der Milchwirtschaft inzwischen Realität und verbessern die Produktivität, die wirtschaftliche Nachhaltigkeit und den Tierschutz. Diese Technologien ermöglichen eine kontinuierliche Überwachung der Gesundheit und des Wohlbefindens, insbesondere von Schlüsselindikatoren wie Lahmheit, Mastitis und Körperzustand von Milchkühen, und bieten die für ein wirksames Tierschutzmanagement erforderliche Genauigkeit.6

BIBLIOGRAPHIE
1Fraser D. Bewertung des Tierschutzes: unterschiedliche Philosophien, unterschiedliche wissenschaftliche Ansätze. Zoo Biol. 2009 Nov;28(6):507-18.
2Leliveld, L.M.C.; Provolo, G. A Review of Welfare Indicators of Indoor-Housed Dairy Cow as a basis for Integrated Automatic Welfare Assessment Systems. Animals 2020, 10, 1430.
3https://www.welfarequalitynetwork.net/media/1088/cattle_protocol_without_veal_calves.pdf
4de Vries M, Bokkers EA, Dijkstra T, van Schaik G, de Boer IJ. Invited review: associations between variables of routine herd data and dairy cattle welfare indicators. J Dairy Sci. 2011 Jul;94(7):3213-28.
5Vasseur E. Symposium über Tierverhalten und Wohlbefinden: Optimizing outcome measures of welfare in dairy cattle assessment. J Anim Sci. 2017 Mar;95(3):1365-1371
6Silva, S.R.; Araujo, J.P.; Guedes, C.; Silva, F.; Almeida, M.; Cerqueira, J.L. Precision Technologies to Address Dairy Cattle Welfare: Fokus auf Lahmheit, Mastitis und Körperkondition. Animals 2021, 11, 2253.